Ave atque vale

Es schneite. Dicke Flocken fielen vom Himmel und bedeckten die Kirche, die Wege und die Gräber. Ich blickte zum Himmel, wischte die Träne weg, die mir über die Wange lief. «Et in perpetuum, frater, ave atque vale», wisperte ich, Worte, die sich inzwischen so vertraut anfühlten. Worte, die schon zu oft gesagt wurden. Bis auf das leise Flüstern des Windes verschluckte der Schnee alle anderen Geräusche und so war der Friedhof genau das, was er sein sollte: Ein stiller, friedlicher Ort, an dem die Toten endlich ihre Ruhe fanden, fernab von dem Chaos des Lebens. Die Zeit schien still zu stehen, was vermutlich auch für alle zutraf, die hier waren, ausgenommen meiner selbst. Vielleicht war es ja das, was tot sein bedeutet. Dass die Welt aufhörte, sich zu drehen, dass die Zeit endete. Hatte er damals gespürt, wie alles stehenblieb? Wie er aus dem Gefüge der Welt gerissen wurde, dazu verdammt, für immer der Gleiche zu bleiben? Ich seufzte laut, ein Klang des Lebens in der Stille. Langsam bückte ich mich, wischte mit dem Ärmel den Schnee von der Inschrift und fuhr mit den Fingerspitzen die Buchstaben nach, so vertraut, dass ich die Augen dafür hätte schliessen können. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass damals auch ein Teil meiner Welt stehengeblieben war, doch ich lebte, und meine Zeit zog mich unerbittlich mit, durch die Tage und Wochen, bis ich mich damit abgefunden hatte. Eine Stimme rief meinen Namen und ich drehte mich kurz um, hob meine Hand und streckte die Finger, zwei Minuten noch. Dann wandte ich mich wieder dem Grabstein zu und legte nun endlich die Blumen ab, die ich bis jetzt in meiner Hand gehalten hatte. Es war ein Straus Christrosen, ich hatte ihn kurz zuvor im Blumenladen im Bahnhof gekauft. Die weissen Blüten hoben sich kaum vom Schnee ab und bald würden sie vom Schnee bedeckt sein. Die Flocken fielen nun immer dichter. Vor zwei Jahren hatte es geregnet, die Strassen waren rutschig und die Windschutzscheiben undurchsichtig. Frontalkollision, hiess es in den Nachrichten, zwei Tote, ein Schwerverletzter. Vielleicht hätte mein Onkel noch ausweichen können, wenn er sich auf die Strasse konzentriert hätte, sicher hatte er sich wieder von etwas ablenken lassen … Ich schüttelte den Kopf. De mortuis nil nisi bene, über die Toten nur Gutes. Sein Grab lag direkt neben dem meines Bruders, zugeschneit wie alle anderen. Damals hatte ich es erst gar nicht glauben können, wie konnte ein Leben einfach so plötzlich enden, war es wirklich so vergänglich, wie es alle sagten? Ich spürte immer noch den Schatten der Verzweiflung, welche ich damals empfunden habe und das Gewicht meiner Trauer. Vermutlich würde sie nie ganz verschwinden, doch inzwischen war die Trauer ein Teil von mir. «Bis bald, Bruder», flüsterte ich, dann drehte ich mich um und folgte dem verschneiten Weg zum Friedhofstor. Denn hinter mir lagen zwar die Toten in ihrer ewigen Ruhe, doch vorne wartete mein Freund auf mich, daheim meine Familie und in der Schule meine Freunde. Also liess ich den Tod hinter mir und lief dem Leben entgegen. 

 

Von Priska Steinebrunner