Abgründe

 

„Es sind keine weissen Weihnachten dieses Jahr. Natürlich nicht. Weihnachten sind nie weiss. Das ist ein Mythos. Alle Leute glauben zu wissen, das Weinachten weiss sind, sein müssen, oder es jedenfalls früher immer waren. Und dann sind sie jedes Jahr erneut enttäuscht, weil es nicht so ist, wie es sein muss, oder wie sie glauben, dass es ist. Ich verstehe nicht, wieso sie nicht einfach aufhören, daran zu glauben. Wieso sie sich nicht einfach freuen, egal wie es dann kommt. Das wäre doch viel einfacher.“
Die Nacht ist tatsächlich schwarz, nicht weiss. Und selbst am Tag ist alles eher grau als weiss gewesen. Nur einige unentschlossene Flocken schweben durch das Nichts, heimatlos wie wir, nicht Regen, nicht Schnee, sondern dieser seltsame Stoff dazwischen, sie verenden in den schlammigen Pfützen auf dem Kopfsteinpflaster, nicht weiss, nur nass. Und kalt.
Er sitzt da auf seiner kratzigen Decke und spricht mit mir oder mit sich selbst. Er spricht fast zu schlau um einer von uns zu sein, ein Heimatloser, einer der keine Weihnachten feiert. Ein bisschen zu gebildet. Ein bisschen zu sehr wie die Leute in ihren gemütlichen Wohnungen, mit ihren blinkenden Dekorationen und teuren Kleidern. Und doch strahlt er diesen leisen Protest aus, den wir alle zeigen, ein Protest gegen diese aufklebte Glitzerwelt. Ich frage mich, wer er ist, der sich heute in dieser feuchtkalten Nacht zu mir auf den Boden gesetzt hat, um mit mir über die Unsinnigkeit der Leute zu diskutieren. Doch ich frage ihn nicht. Ich frage etwas anderes. „Wieso? Wieso wollen alle so unbedingt Schnee? Ich verstehe es nicht. Er ist doch nur kalt. Und nass.“
Es ist lange still, so still wie es nur mitten in der Nacht sein kann und er überlegt, ich spüre es, eine stille Konzentration. Irgendwo schlägt eine Turmuhr, ich zähle die Schläge nicht.
„Er macht blind, der Schnee.“, erklärt er dann, „ Die Leute sehen nicht gern. Lieber lassen sie sich blenden von diesem kitschigen Glitzern, glauben, dass alles schön ist, weil der Schnee alles Hässliche zudeckt. Die Abgründe, die sich zwischen ihnen aufgetan haben, zwischen all den ach so glücklichen Familien, die Ringe des Vorweihnachtsstresses unter ihren Augen und die Fantasielosigkeit der obligatorischen Geschenke.“
„Und uns.“, füge ich hinzu, „Sie sehen uns nicht mehr. Wir sind auch hässlich. Ein Schandfleck im Bild der Lichterketten und Glitzerkugeln.“
Er nickt.
Wieder ist es lange still. Die Zeit verrinnt oder steht still, es ist nicht wichtig, denn die Zeit gibt es nicht, sie ist nur eine Erfindung der Leute, damit sie sagen können, sie haben zu wenig davon. Man sollte ihnen einmal sagen, dass alles, womit sie ihre Zeit verbringen, unnötig ist. Das man sehr viel mehr Zeit hat, wenn man sich damit begnügt, schlafen und essen als einzige Dinge im Leben zu sehen, die unbedingt sein müssen. Aber das ist wohl auch nur etwas von den vielen Dingen, welche die Leute nicht sehen wollen.
„Ich war auch mal dort.“, erklärt er irgendwann, und macht eine unbestimmte Handbewegung, die alle warmen Wohnzimmer mit geschmückten Weihnachtsbäumen und teuren Polstergruppen mit einschliesst. „Ich habe lange Zeit Weihnachtsbäume geschmückt, Lichterketten bestaunt und auf Schnee gewartet. Ich habe mich lange genug blenden lassen vom schönen Schein. Und irgendwann ist vieles schiefgelaufen. Irgendwann habe ich mich gefragt, was ich will. Will ich Geld, oder will ich Leben. Und irgendwann habe ich beschlossen, dass es die Bequemlichkeit nicht wert ist, wenn man dafür alle Wahrheiten aufgibt. Und dann bin ich gegangen.“
Ich nicke. „Und, hat es sich gelohnt?“
„Ich glaube ja.“, antwortet er. „Auch wenn es anders ist, als ich erwartet habe. Es hat nichts romantisches, das Leben hier draussen. Aber es ist ehrlich. Es will nichts verstecken, nichts vertuschen, nichts verschönern. Es ist einfach so, wie es ist.“ Er haucht in seine Hände, ein verzweifelter Versuch, etwas Wärme zu erzeugen.
Dann sagen wir nichts mehr. Schauen nur noch zu wie die allerletzten Lichter in den warmen Zimmern erlöschen. Hören, wie die Turmuhr immer wieder schlägt, wie ein Lehrer, dem niemand zuhört. Spüren wie es immer kälter wird. So kalt, dass der Schnee die verlassene Strasse doch noch ein bisschen weiss färbt.

von Nina Hurni