Eingesperrt

Stell dir vor, es ist Anfang Dezember. Wintereinbruch. Draussen tobt ein fürchterlicher Schneesturm. Heulend braust er an dem Fenster vorbei, an dem du stehst und nach draussen schaust. In das stürmische Weiss. Du siehst gewaltige Schneeflocken vorbeiwirbeln. Erkennst darin eine drohende Gefahr. Hast Angst, dass deine Eltern, welche Stunden zuvor mit dem Auto losgefahren sind, im Sturm steckenbleiben. Du fürchtest, dass die Strassen zu rutschig sind, dass sie den Weg nicht finden, dass das Haus eingeschneit wird. Du gerätst in Panik, denkst daran, dass ihr kaum Vorräte habt, zählst an deinen Fingern ab, wie viele Tage ihr von dem, was ihr habt, überleben könntet, merkst, dass es nicht viele sind, überlegst dir, was du tun würdest, wenn die Wasserleitung eingefroren wäre.

 

Deine Schwester neben dir geniesst das Schneetreiben. Das fünf Jahre alte Mädchen sieht die Gefahr nicht, welche du als 14-jährige wahrnimmst. Sie erkennt in dem Sturm einfach nur glitzernde Flocken. Schnee. Weihnachten. Sie jubelt laut. Ruft dir zu, du sollst ihr helfen den Schlitten aus dem Keller zu holen.

 

Du kannst dich noch immer nicht vom Unwetter draussen abwenden. Du zögerst. Die kleine Schwester bettelt um deine Hilfe, denn sie ist zu klein, um den Schlitten selbst vom Regal zu hieven, zieht ungeduldig an deinem Pullover, redet auf dich ein. Bearbeitet dich so lange, bis du schliesslich notgedrungen nachgibst.

 

Du steigst mit ihr die steilen Stufen hinab, achtest sorgsam darauf, dass sie nicht stürzt in ihrem überschäumenden Eifer. Dann schaltest du das Licht an. Dein Blick fällt auf das Fensterbrett draussen und du erkennst die Schneemengen, die sich darauf stapeln. Als du das Fenster aufreisst - im Keller bekommst du plötzlich zu wenig Luft - rollt eine kleine Lawine herein. Du schreist erschrocken auf und machst unwillkürlich einen Schritt zurück, streckst dabei die Hand schützend nach deiner Schwester aus.

 

Der Fünfjährigen gefällt es. Sie hebt das schmelzende Weiss auf, formt mit ihren kleinen Kinderhänden eine Kugel und wirft nach dir. Der Schneeball verfehlt jedoch sein Ziel und auf dem Teppichboden bleibt eine kleine Pfütze zurück. Du holst einen Lappen, wischt auf. Vertieft in deine kurzweilige Arbeit, bemerkst du nur aus dem Augenwinkel, was deine Schwester in der Zwischenzeit treibt.  Freudig stülpt sie sich die gestrickte Mütze über den Kopf, wickelt sich den Schal um den Hals, zieht ihre wärmste Winterjacke an, fragt ob du ihr hilfst, den Reissverschluss zuzuziehen.

 

Du wringst den Lappen aus, hörst sie nicht. Die Kleine klettert an dem Regal hoch, holt sich den Schlitten selbst, weil sie in ihrer Ungeduld nicht mehr länger warten kann. Als du ihren wagemutigen Versuch bemerkst, lässt du alles liegen, hechtest zu ihr, pflückst sie vom Regal und stellst sie auf den sicheren Boden. Du wischst dir den Schweiss von der Stirn. Du hattest Angst um sie. Du hast die Verantwortung, weil eure Eltern fort sind. Du musst auf die Kleine aufpassen.

 

Freudestrahlend betrachtet deine Schwester den Schlitten, holt die Handschuhe und will die Tür nach draussen aufschliessen. Diese lässt sich nicht öffnen. Du weisst warum. Panik steigt erneut in dir auf. Ein Blick durch das Fensterchen im oberen Bereich der Tür, da, wo nur du durchschauen kannst, bestätigt deinen schrecklichen Verdacht: der Schnee hat sich zu einem Berg aufgetürmt. Dieser ist zu schwer, um durch das Öffnen der Tür beiseitegeschoben zu werden.

 

Du musst es ihr jetzt sagen. Die Kleine dreht sich um, schaut dich abwartend an. Macht dir Platz, damit du die Tür aufstossen kannst. Als du dich nicht von der Stelle rührst, werden ihre Augen wässerig. Sie denkt, dass du ihr nicht helfen willst. Sie weint lautlos. Versteht dich nicht. Du musst es ihr sagen.

 

Du holst tief Luft, die Worte kommen dennoch nicht. Du schaust verzweifelt durch das kleine Fenster. Hoffst auf ein Wunder. Aber der Schneesturm draussen ist nur noch heftiger geworden.

 

Du willst sie weder verletzen noch enttäuschen. Die Wahrheit würde sie jedoch nicht nachvollziehen können.

 

Wie erklärst du ihr nun, dass ihr in euren eigenen vier Wänden eingesperrt seid?

 

 

 

von Nina Hausmann