Die Laterne

 

Meine älteste Erinnerung ist ein Stock. Ein dicker, brauner Stock. Mit dem ich geschlagen wurde. Und meine Schwestern auch. Immer dann, wenn unsere Leibchen ein Loch hatten. Oder die Sohlen von unseren Schuhen abfielen. Immer dann gab es Prügel.

 

Mit acht landete ich bei einer Tante. Meine Eltern waren gestorben, wir Kinder auf die Verwandten verteilt. Ich hatte Glück. Ich wurde von meiner Tante nicht geschlagen. Ich war ihr das Geld für einen anständigen Prügelstock nicht wert. Auch zu essen hatte ich genug. An speziellen Tagen sogar zwei Mahlzeiten. Ich konnte mich glücklich schätzen, von ihr aufgenommen worden zu sein. Meine Tante sorgte dafür, dass ich das nie vergass.

 

Mit zwölf lebte ich in meiner Wunschwelt. Nur um Treibstoff zu holen, kehrte ich in die echte zurück. Weisser, pulvriger Treibstoff, der mich in eine Rakete kapselte und auf einen anderen Planeten schoss. Einen, auf dem ich schwerelos war.

 

Mit achtzehn lernte ich ein Mädchen kennen. Sie war blond und wunderschön. Ich sah sie jeden Dienstag. Ihre Stimme liess mich dahin schmelzen, wenn sie sagte, ich dürfe meine Tabletten auf keinen Fall vergessen, sonst müsse ich dortbleiben. Ihre Hände waren samtig und die Haut wunderbar glatt. Von dem Tag an, an dem ich sie küsste, war dienstags ein Mann dort.

 

Mit zwanzig entschied ich mich, weise zu werden. Ich erkannte all die unbeantworteten Fragen, all die ungelösten Probleme und all die dunklen Ungerechtigkeiten. Ich machte mich auf den Weg. Auf den Weg aus meinem Haus, meinem Dorf, meinem Land, hinaus in die grosse Misere namens Welt, auf der Suche nach dem Sinn, nach der Weisheit. Ich war in China, befragte Philosophen, war im Tibet, sprach mit Mönchen, war in Perú, diskutierte mit Urvölkern. Niemand hatte Antworten, zu keiner Zeit, an keinem Ort.

 

Mit siebzig kehrte ich zurück. Ich war alt. Alte Leute waren weise. Ich hätte also auch weise sein müssen. Aber ich war es nicht. Was war ich schon. Ausser alt. Meine Leben neigte sich gemächlich dem Ende zu, scherte sich nicht um meine Angst vor dem letzten Atemzug, bei dem ich mir denken musste, ich habe versagt. Ich hatte nichts in meinem Leben geleistet, nichts erreicht, nichts erkannt. Ich war unzufrieden. Mit allem. Ich sollte glücklich sein gegen Ende meines Aufenthalts auf diesem Planeten. Aber ich war es nicht. Meine Laterne der Freude brannte nicht und hatte es nie zuvor getan.

 

Und genau in dem Moment, als mir dieser Gedanke durch den Kopf schoss, wurde ich weise. Für meine Laterne war es zu spät. Aber die meine war nicht die einzige. Wenn die Laterne aller anderen brannte, so wurde es auch bei mir hell.

 

Am nächsten Morgen machte ich mich auf den Weg, nahm mein gesamtes Münz zusammen, ging in den Supermarkt und kaufte ein. Mandarinen, Nüsse, Schokolade, alles was das Herz begehrte.

 

Am Abend war ich bankrott. Aber vollbepackt mit Leckereien. Ich zog im Dorf umher, von Haus zu Haus und verschenkte, was ich zuvor gekauft hatte.

 

Nachdem ich das Haus eines kleinen Jungen, der mir unbedingt seinen unauffindbaren Kater Sami hatte zeigen wollen, verlassen hatte, kam er plötzlich angerannt und rief ganz lautdurch alle Strassen: «Da chunnt dä Sami, Chlaus». Von da an hiess ich im Dorf Samichlaus.