Neuschnee

Der eisige Wind des Schneesturms pfiff durch die schwarzen Überreste des Waldes. Äste ragten wie Klauen in die dunkle Nacht und schienen nach den Sternen zu greifen, welche weit oben und hinter dem weiss des Blizzards nicht mehr waren als Wunschbilder. 

Der vor wenigen Wochen noch mit buntem Laub bedeckte Waldboden war jetzt nur noch zu erahnen, nichts als eine ferne Erinnerung unter den ungastlichen weissen Massen des Winters. Einige Krähen klammerten sich zaghaft im Geäst eines entlaubten Baumes fest und trotzten dem kalten Sturm mit ihrer Anwesenheit, während der Schnee auf den Ästen immer wieder vom Unwetter auf- und wieder abgetragen wurde, immer etwas der eisigen Masse zurücklassend. 

Frischer Schnee knirschte, als ein Paar Stiefel ihn durchbrachen. 

Keuchend, mit jedem Atemstoss eine weisse Wolke erzeugend, welche durch den umgewickelten, vermummenden  Schal drang – und sofort vom Eiswind mitgerissen wurde – näherte sich eine Gestalt den kahlen Bäumen.

Die schweren, schwarzen Stiefel, inzwischen weiss vom Schnee gesprenkelt, brachen erneut die kalte Kruste über dem Winterwald. Die Frau blickte sich gehetzt um, einen Sack umklammert, als bärge er Gold und Juwelen, und setzte ihren mühsamen Marsch durch die Ödnis fort. Während sich weiterhin der Schnee des Sturms auf ihrer Kappe, sowie auf Rücken und Beinen sammelte, passierte sie schweren Schrittes den Baum mit den Krähen. Die schwarzen Vögel spreizten ihre Schwingen und flatterten fast alle davon, hinein in den Sturm, nur eine Krähe blieb sitzen und betrachtete die Wanderin neugierig und machte Anstalten, sich zu nähern.

Endlich hatte sie es tun können. Tagelang hatte sie geplant und diese Nacht hatte sie ihn befreien können; ihren Geliebten, ihr ein und alles.

Vor einigen Wochen hatte sie ihn zum ersten Mal erblickt und sofort einen Seelenverwandten erkannt. Doch unerreichbar war er gewesen, ausgestellt wie ein wildes Tier, unerreichbar. Zwar hatten sie ihm sein Haus und seine Sachen hingestellt, doch was bringt Heimat, wenn man sonst niemanden hat.

Täglich, bis zum letzten Tag, hatte sie ihn besucht, jeden Tag schmerzte es mehr, wie die Leute ihn bewunderten, aber ihm dennoch nicht halfen. Sie hasste sie dafür; denn nach ihrer Meinung sollten alle frei sein; keine Abgrenzungen von der Freiheit.

Sie erinnerte sich, wie er sie bei jedem Besuch anstarrte und zu verstehen schien und ihr zustimmte. Zwar hatte er nie etwas gesagt, vielleicht konnte er nicht sprechen, oder zumindest nicht diese Sprache, aber er hatte ihr zugestimmt, dass wusste sie, dass hatte sie gespürt, jedes Mal, wenn ihre Blicke – getrennt von der Scheibe – aufeinandertrafen.

Am Tag der Befreiung war einiges schief gelaufen. Als sie die Scheibe zerschlagen hatte, holte sie sich bereits etliche Schnittwunden, und noch mehr, als sie seinen Arm ergriff und ihm heraushalf. Doch kaum war er draussen gewesen, passierte das eigentliche Unglück: Er fiel und schlug sich an einer Tischkante den Kopf. Augenblicklich war er tot. Sie hatte bitterlich um ihn geweint, am Boden kauernd schmerzhafte Tränen über ihr Versagen vergossen; all die Mühe, und dann das. Am liebsten wäre sie davongerannt, irgendwohin, um zu sterben. Doch sie war es ihm schuldig, ihn hier fortzubringen.

Sie hatte einen Sack zur Hand genommen und begann den Leichnam hineinzustopfen – dazu noch zum Schutz umwickelt mit Tüchern. Jedoch reichte der Platz nicht aus und bereits dort musste sie ein Bein zurücklassen.

Dann floh sie in die Nacht hinein, in einen wütenden Schneesturm.

Bei jedem Schritt wurde Schnee aufgeworfen, mitgezogen und zerknirscht, doch sie machte nicht halt. Die kahlen, schwarzen Stämme, welche wie verkohlte Rippen aus weissem Fleisch ragten, wurde häufiger und grösser. Die fingrigen Äste, die im Sturmwind klapperten, waren teilweise mit bizarren Eisgebilden umflochten und folgten widerstandslos dem Wind. Auch hier, inzwischen etwas geschützter vom eisigen Unwetter, stampfte die Frau im tiefer werdenden Schnee weiter, den Sack immer noch schützend umklammert, als sich tiefer im Wald etwas Schwarzes, schemenhaftes manifestierte, dass am Boden lag.

Es stellte sich als einen gigantischen, entwurzelten Baum heraus, der mit seinen beindicken Ästen eine Art Unterschlupf, oder zumindest einen Schutz vor dem Sturm bot.

Erschöpft liess sich die Frau hinter dem Stamm auf die Knie sinken und kauerte sich, mit angezogenen Knien, den Sack mit den Überresten ihres Geliebten im Arm geborgen, an den Stamm. Über ihr waren nur die fernen Sterne und das weiss des Blizzards, von welchem sie nur von einigem Gezweig geschützt wurde, dass sich über ihrem Kopf bog. Vor Kälte zitternd, schaudernd vom Heulen des Windes und keuchend vor Erschöpfung, schlief sie ein, voll Schuldgefühlen und Trauer.

Der Sturm hatte sich gelegt und tonnenweise Neuschnee hinterlassen.

Die Frau kauerte stets noch hinter dem gefallenen Stamm, die Füsse mit Schnee zugedeckt, ebenso hatte sich die glitzernde, weisse Masse häufchenweise auf ihr niedergelegt.

Regungslos hockte sie am schwarzen Holz, als sich die Krähe näherte. Sie musste den Inhalt des Sackes gewittert haben und nun betrachtete sie mit ihren schwarzen Augen misstrauisch die Geflohene – immer wieder durch den Schnee hüpfend, näher an das Ziel heran. Als der schwarze Vogel nahe genug war, pickte er vergeblich am verschlossenen Beutel herum.

Urplötzlich erwachte die Frau aus ihrem kalten Schlaf und zog den Sack mit ihren bläulichen Fingern weg. Die Krähe war zurückgesprungen, machte aber Anstalten, sich wieder zu nähern.

Die spröden Lippen der Frau spreizten sich, als sie den Mund aufmachte. Ein heiseres Fauchen kam hervor und die Krähe, aufgeschreckt von dem unmenschlichen Geräusch flog auf, hinein in das Grau der Nacht.

Das gebrochene Liebespaar blieb beim Baumstamm zurück, und die Frau zog den Beutel wieder näher an sich heran. Hier würde ihre Lebensreise enden, das wusste sie nun, alleine würde sie nirgends mehr hingehen.

Nachdem sie ihre Entscheidung gefällt hatte, blickte sie zum Himmel, den Sack fest umschlossen, und sah, wie wieder langsam Schneeflocken vom grauen Firmament herabfielen, dann schloss sie die Augen.

In einem Dorf, mehrere Stunden Fussmarsch entfernt von dem kahlen Wald, begannen die ersten Bewohner langsam aufzustehen.

In einem Laden wurde gerade der Eingang von der Besitzerin geöffnet. Doch als sie eintrat, erkannte sie, dass jemand eingebrochen war; Glasscherben lagen auf dem Boden und kleine Pfützen wiesen auf geschmolzenen Schnee hin. Schnellen Schrittes lief die Frau zur Kasse, doch wider Erwartens war alles noch da. Erst dann sah sie den Schaden. Eine Vitrine vor der Theke war eingeschlagen worden und ein Teil des Inhalts fehlte. Die Bäckerin näherte sich dem Tatort. Ein bisschen getrocknetes Blut klebte an den Scherben und dahinter, im gläsernen Kasten, stand sorgfältig gebaut eine zierliche Schneelandschaft aus Gebäck, mitsamt einem Lebkuchenhaus und einem Weihnachtsbaum. Doch dort, wo ein grosses Lebkuchenmännchen gestanden hatte, war nichts. Der Blick der Bäckerin wanderte zum zweiten Ausstellungstisch und sah am Boden ein abgebrochenes Lebkuchenbein liegen, umgeben von Krümeln.

Verwirrt blickte sie auf die Überreste des Männchens, doch dann zuckte sie bloss mit den Schultern und beschloss, alles aufzuräumen und einen neuen Lebkuchenmann zu backen.

 

Von Sven Suess