Das Märchen von der Winterkönigin

Es war einmal ein Mädchen, das war die Tochter des reichsten Kaufmanns in der Stadt und hatte alles, was es brauchte. Es lebte mit seinen Eltern in einem grossen Haus am Stadtrand, sie hatten Bedienstete und jeden Abend, wenn sie zum Essen zusammen kamen, standen da die herrlichsten Speisen und wenn das Mädchen zu Bett ging, war das Zimmer warm und im Winter flackerte ein herrliches Feuer im Ofen. Wenn draussen der Sturm tobte, erzählte die Mutter dem Mädchen alte Geschichten, wie die der Sturmtöchter, der Mondlichttänzerinnen und im Winter, wenn draussen nichts als weiss zu erkennen war, die Geschichte des Winterkönigs, der die Flocken tanzen liess und aus Wärme Kälte machen konnte, doch stets allein wandeln  musste, da es niemand wagen würde, eine kalte Seele zu lieben. Dann erklärte das Mädchen, es würde auch den Winterkönig lieben, wenn er zu ihm käme, worauf die Mutter ihm über den Kopf strich und erklärte, es hätte ein viel zu warmes Herz für eine so kalte Seele.

 

Die Weihnachtszeit war dem Mädchen die liebste Zeit. Es liebte all die Lichter und die Musik und natürlich die Geschenke. Sein Vater hatte ihm schon früh beigebracht, dass Weihnachten die Zeit sei, in dem man geben solle, was man hat, den so bekäme man auch immer wieder etwas zurück, und sei es auch nur ein Leuchten in den Augen und ein Lächeln auf dem Gesicht. Und so streifte das Mädchen über die Weihnachtsmärkte der Stadt und verteilte das Geld, welches sein Vater ihm gegeben hatte, an die Bettler in den Ecken. An Heiligabend ging die gesamte Familie in die heilige Messe, und wenn sie dann nach Hause zurückkehrten, hatten die Bediensteten im grossen Zimmer gedeckt und sie assen mit allen zusammen ein herrliches Mal, bevor sich die Familie in die gute Stube zurückzog, wo es die Bescherung gab. Danach sassen sie zusammen, das Mädchen spielte mit seinen neuen Sachen und die Eltern lachten und redeten und tranken ein Glas Rotwein mehr als sonst. Es war immer der Lieblingstag des Mädchens, der Tag bevor all die Weihnachtsveranstaltungen begannen, zu denen der Vater immer eingeladen wurde. Heiligabend war der Abend, an dem die ganze Welt in Ordnung war.

 

Es war das Jahr, in dem das Mädchen zwölf Jahre alt geworden war. Die Familie war gerade auf dem Heimweg von der Kirche und dicke Schneeflocken fielen und bedeckten die sowieso schon verschneiten Strassen. Das Mädchen liess sich etwas zurückfallen und begann unter den Flocken zu tanzen. Es lachte wie ein kleines Kind, als es plötzlich in einer Seitengasse einen Jungen sitzen sah. Der Junge sass zusammengekauert da, nur in einen zerrissenen Mantel gehüllt und schien ins Leere zu starren. Das Herz des Mädchens zog sich vor Mitleid zusammen. Es zog alles Geld, was es noch in den Taschen seines Mantels hatte, hervor und legte es vor dem Jungen nieder. Er hob den Kopf und das Mädchen konnte erkennen, wie hell seine Haare und wie weiss seine Haut war und wie blau seine Augen. «Tut mir leid, junge Dame, aber ich kann Euer Geld nicht annehmen», sprach er. Das Mädchen war erstaunt. «Warum?», fragte es und der Junge antwortete: «Das Geld vermag zwar, mir einen neuen Mantel zu schenken, oder für heute einen vollen Magen, doch es schenkt mir keine Familie, mit der ich feiern kann, keinen Weihnachtsbaum, unter dem Geschenke liegen, kein Zimmer, in dessen Ofen ein Feuer brennt und mir Wärme spendet. All das Glück der Weihnachtszeit, das kann man nicht kaufen und so will ich mir auch nichts anderes kaufen, es würde meine Situation nicht besser machen.» Das Mädchen dachte über die Worte des Jungen nach. Dann kam ihm eine Idee und es lud ihn ein, den Weihnachtsabend bei ihm und seiner Familie zu verbringen. Der Junge zögerte kurz, doch dann folgte er dem Mädchen nach Hause, ass zusammen mit allen anderen im grossen Zimmer und als es Zeit für die Bescherung wurde, teilte das Mädchen seine Geschenke mit ihm und sie spielten miteinander, bis die Eltern das Mädchen ins Bett schickten und auch für den Jungen eine Kammer herrichten liessen. Als das Mädchen am nächsten Morgen erwachte, wollte es sofort zu seinem neuen Freund stürmen, doch als es die Kammer des Jungen betrat, war das Bett leer, das Feuer im Kamin erloschen und das Fenster weit geöffnet, sodass die Kälte bereits das ganze Zimmer ausfüllte. Das Mädchen suchte überall im Haus, um das Haus herum und später durchstreifte es die gesamte Stadt auf der Suche nach dem Jungen, doch er blieb verschwunden.

 

Die Jahre vergingen. Aus dem Mädchen wurde eine junge Frau. Sie lernte, die Sorgen der Welt zu sehen und die wunderschönen Kindheit war dem Ernst des Lebens gewichen. Der Vater war gestorben und die Mutter hatte das Haus verkaufen müssen. Sie waren weggezogen, in eine andere Stadt, in ein kleines Häuschen, wo sie anfingen, als Weberinnen und Angestellte für einen der grossen Händler zu arbeiten und in der Weihnachtszeit fror sich die junge Frau nun am Stand auf dem Markt die Zehen ab, beim Versuch, all die Stoffe zu verkaufen. Am ersten Tag im Advent, es war schon beinahe dunkel geworden und die Flocken fielen dicht, wie sie schon an jenem besonderen Weihnachtsabend gefallen waren, sah sie ihn wieder. Aus dem Jungen von damals war ein junger, stattlicher Mann geworden, doch sie erkannte seine hellen Haare, seine weisse Haut und seine blauen Augen. Ihm schien es besser zu gehen als damals, sein Mantel war ganz und auf seiner Brust prangte das Wappen einer einflussreichen Kaufmannsfamilie, für die er wohl gerade einige Einkäufe erledigte. Sie rief nach ihm, und er drehte sich zu ihr um und erkannte sie wieder. Mit grossen Schritten näherte er sich ihrem Stand und sie begrüssten sich wie alte Freunde. Die junge Frau fragte nicht, warum er damals verschwunden war, sie hatte gelernt, dass es Sachen gab, die man manche Menschen nicht fragen sollte. Stattdessen redeten sie über ihre jetzige Situation, über die bunten Stände des Marktes, über das Getue der hohen Damen und was ihnen sonst so einfiel. Und als sie am nächsten Tag wieder an ihrem Stand die Stoffe verkaufte, kam er wieder vorbei und so ging es die ganze Woche, bis sie begannen, sich auch sonst zu treffen. Sie lachten zusammen und auf ihren nächtlichen Spaziergängen durchliefen sie die ganze Stand. Die Gespräche wurden persönlicher, sie kamen sich näher, auch wenn er sich ihr nie vollkommen öffnete, so wie sie es tat. Sie genoss ihre Gespräche, sie genoss seine Art und sie liebte es, ihn lachen zu sehen. Doch manchmal hatte sie das Gefühl, er verstecke sich vor ihr. In seltenen Momenten konnte sie hinter seiner Maske etwas Übermenschliches erahnen, eine Schönheit, die der des Winters glich. Anders konnte sie es nicht beschreiben. Und als der heilige Abend kam, und ihre Mutter keine Zeit hatte, um mit ihr zu feiern, da gingen die junge Frau und der junge Mann zusammen in die Messe und danach kletterten sie auf die Stadtmauer. Sie hockten sich in den Schutz der Zinnen, rückten dicht zusammen, um sich Wärme zu schenken und erzählten sich Geschichten, während um sie herum die Flocken fielen. Die junge Frau erinnerte sich an die Geschichte vom Winterkönig und sie begann zu erzählen und er hörte ihr zu. «Und würdest du es wagen, die kalte Seele des Winterkönigs zu lieben?», fragte er, als sie geendet hatte. Sie überlegte, dann antwortete sie: «Es würde für mich keine Rolle spielen, wie kalt seine Seele wäre. Was zählen würde, ist, wer er ist und ob er mich ebenfalls lieben kann» «Du hast ein viel zu warmes Herz für eine so kalte Seele», meinte er, dann stand er auf und verliess sie. Und es war wie damals, am nächsten Tag war er nirgends aufzufinden, und er blieb verschwunden, egal wie sehr sie suchte.

 

 

Einige Jahre später starb auch die Mutter, drei Tage vor Weihnachten. Die junge Frau war am Boden zerstört. Sie packte das wenige wichtige Hab und Gut und verliess die Stadt. Und immer, wann ihr ein Bettler begegnete, gab sie ihm ein Teil ab, bis es Heiligabend war und sie nichts mehr besass, als ihre Kleider. Sie lief durch einen verschneiten Wald und erinnerte sich an all die vergangenen Weihnachten, die doch so glücklich gewesen waren. Sie konnte sich nicht beklagen, alles war wundervoll gewesen, bis jetzt. Es begann zu schneien, dicken Flocken, wie früher, und sie dacht bei sich, dass es heute doch ein gutes Ende wäre, an Heiligabend, im Schneegestöber. Sie legte sich in den Schnee, liess die Kälte von ihr Besitz ergreifen, und wartete darauf, dass diese ihr ach so warmes Herz erreichte. Und dann sah sie ihn. Der Winterkönig stand vor ihr, in all seiner Pracht, und seine Macht umgab ihn spürbar wie die Kälte. Und sie erkannte ihn, sie erkannte seine hellen Haare, seine weisse Haut und seine blauen Augen, doch nun sah sie auch all das, was er zuvor vor ihr versteckt hatte, sie sah seine kalte Schönheit, seine kalte Seele, die doch gar nicht so anders war als die ihrige. Er nahm sie in den Arm, und was warm war, wurde kalt, und die Kälte füllte sie aus, wurde ein Teil von ihr, bis es war, als würde sie von Wärme erfüllt sein. Dann lies er sie los, bot ihr seine Hand an und sprach: «Du sagtest, es spiele für dich keine Rolle, wie kalt die Seele des Winterkönigs sei. Du siehst nun, was ich bin, wer ich bin. Auf der Suche nach Erlösung aus dieser Einsamkeit habe ich dich gefunden. Ich habe dir die Kälte geschenkt, ich kann dir den Tod schenken, wenn du es wünschst, doch ich schenke dir auch meine Liebe. Du bist die Einzige, die es wagen würde, den Winterkönig zu lieben, also bitte ich dich, komm mit mir, werde meine Königin, mach den Winter etwas weniger einsam. Bitte» Er sah sie an und sie sah den Jungen, mit dem sie vor einer Ewigkeit an Heiligabend unter dem Baum gespielt hatte, und sie sah den jungen Mann, dem sie schon Jahre zuvor ihr Herz geschenkt hatte, und so ergriff sie seine Hand und ging mit ihm. Und sie sind sicher nicht gestorben, denn solange der Winter wiederkommt, lebt mit ihm auch seine Winterkönigin. 

 

Von Priska Steinebrunner