Deine Kälte

Eine Schneeflocke fällt. Sie fällt langsam. Sie landet sachte auf deiner Haut. Eine sanfte Berührung. Ihre Eiskristalle schmelzen. Eine zweite Flocke fällt. Sie landet. Sie schmilzt. Sie scheint langsamer zu schmelzen.

 

Ich riss meinen Schlitten die letzten paar Meter hoch und fiel kraftlos in den Schnee. «Ha, und du willst dich Langläufer nennen, nicht mal den kleinen Hügel schaffst du’s hinauf!» Spöttisch grinstest du mich an. «Komm erst mal hoch, bevor du rummeckerst.» Ich setzte mich auf und packte den Schlitten unter mich. Ich wartete einige Sekunden. Bis du auf meiner Höhe warst. Deine Erschöpfung versuchtest du zu verbergen. «Tada, da bin ich schon!» Ich rammte meine Füsse in den Schnee, erhöhte den Druck und stiess mich mit aller Kraft ab.

 

Du hebst deine Hand ein Stückchen hoch, bewegst sie zur Seite und legst sie in meine. Ich streiche über deinen Handrücken. Es dringt nur wenige Wärme durch Stoff. Ich nehme meine Hand zur anderen Seite und ziehen den Handschuh aus. Dann schiebe ich sie wieder unter deine. Sie fühlt sich nicht wärmer an. «Geht es dir gut?» Du seufzt. Öffnest den Mund und holst ein wenig Luft. Schliesst ihn wieder.

 

Hinter mir hörte ich die Kufen auf gefrorenen Schnee. Ich konnte deine wilden Haare fliegen sehen. Aus dem Augenwinkel. Ich blickte stur geradeaus. Ich hätte bremsen müssen. Schon lange. Aber aufgeben war keine Option. Ich beschleunigte. Immer mehr. Und noch mehr. Ein Kind sprang aus dem Gebüsch. Ich konnte nur seine rote Mütze erkennen. Ich riss den Schlitten herum, so schnell ich konnte. Er machte eine halbe Drehung. Liess mich fallen. Fuhr den Hang wieder hinauf. Ich kullerte einige Meter nach unten. Dann blieb ich liegen.

 

Du versuchst, mit deinen Armen zu wedeln. Der Widerstand des Schnees ist zu gross. Du schaffast es nicht, ihn platt zu drücken, ihn beiseite zu schieben, einen Flügel zu formen. «Weisst du noch? Meiner hiess Gabriel. Deiner Raphael.» Das ist nicht deine Stimme. So lind und sanft und zerbrechlich. Sie erklingt beinahe nicht, nur schwebt sie, schwebt sie und tanzt.

 

Du warfst dich neben mir zu Boden. Ein liebevolles Kichern. «Ich hoffe, du bist sonst im Leben sesshafter. Umzüge mag ich nicht!» Du drücktest deinen Kopf tief in den Schnee und bewegteste deine Arme. Auf und ab. Deine Beine. Auf und zu. «Der heisst jetzt Gabriel!», rief ich und liess mich neben dich fallen, tat dir die Bewegungen gleich. «Und deiner Raphael!». Langsam drehte ich den Kopf zu dir. Ich schaute dich an. Du schautest zurück. Ich spürte die Schneeflocken auf meinen Wangen schmelzen. Dein Atem beschleunigte es. Der Wind liess meine Geruchssinne gefrieren. Doch ein Duft drang zu mir. Schüchern. Ein Duft, der mir so vertraut vorkam, obwohl ich ihn zum ersten Mal wahrnahm. Dein Geruch.

 

Ich hebe meine Hand und streiche über deine Wange.

 

Du legtest deinen Arm um mich.

 

Ich taste nach deiner Schulter.

 

Du berührtest meine Hüften.

 

Ich bewege mein Gesicht über deines.

 

Du hobst deinen Kopf ein wenig an.

 

Ich lehne mich sanft gegen dich.

 

Du presstest deine Lippen sanft auf meine.

 

Ich lege meine Lippen an deine.

 

Ich spürte deine Wärme.

 

Ich spüre deine Kälte.

 

Alles in mir begann zu brodeln.

 

Alles in dir scheint zu gefrieren.

 

Ich erwache zum Leben.

 

Du lässt dein Leben von dir gleiten.

 

 

 

Von Gian-Andrea Cantiello