Das Eisschloss

 

In kalten Klängen stiessen die eisüberzogenen Äste der jungen Birken aneinander. Unberührter Schnee lag ihnen zu Füssen, über welchen ein kühler Wind seine pfeifende Bahn zog. Vom grauen Himmel fielen bereits wieder die nächsten Schneeflocken, als ein Wanderer mit knirschenden Schritten die Einsamkeit durchbrach.

Die dunklen Stiefel durchbrachen die Schneekruste und verschwanden beinahe bis zur Hälfte der Unterschenkel in der weissen Masse. Mit einem krummen, vom Schneestaub bald weissen Stab, stocherte der Wanderer vor sich im Schnee, bevor er einen Schritt tat. Sein roter Schal, das Gesicht fast völlig vermummend, liess die warmen Atemzüge nur gedämpft in die winterliche Kälte, wo sie kleine, flüchtige Wölkchen bildeten.
Der Wanderer kämpfte sich mühsam vorbei an den klingenden Birken, durch sie hindurch führte sein Weg. Wie kalte Finger hingen die vereisten Äste über ihm, doch seine Anwesenheit war ihnen so gleich wie der fallende Schnee oder der pfeifende Wind.
Das Wäldchen wurde dichter und wie fleckige Säulen ragten die kleinen Birken aus dem weissen Meer. Durch diese Arkaden und gefrorene Wogen kämpfte sich der Wanderer, unerbittlich und entschlossen, den Blick auf die, vom Schnee verhüllten Füsse gerichtet. So merkte er nicht, wie sich hinter dem Wäldchen die Wolken lichteten und einen schwarzen Berg freigaben, der einsam in der eisigen Wüste stand. Doch etwas Blitzendes und Funkelndes befand sich am Fuss des schwarzen Gesteins, so unnatürlich wie die Landschaft selbst.
Als der Wanderer den Saum des Wäldchens erreichte und die klimpernden Eisäste zur Seite schob, hob er seinen Blick auf den schwarzen Felstitan. Der Mann blinzelte und feine Eiskristalle lösten sich von seinen Wimpern; sein Ziel lag vor ihm.

 

Von oben gesehen war er nur ein kleiner schwarzer Punkt, der eine aufgewühlte Spur hinter sich herzog. Langsam, doch durch das weisse Meer vorwärtskämpfend, näherte sich der Punkt dem bläulichen Schimmer vor dem schwarzen Berg.
Strahlen der Sonne, die ihren Weg durch die Nebel- und Wolkenmauern gefunden hatten, wurden in der schimmernden Pracht gebrochen und eisig glänzend dem Wanderer entgegen geworfen. Dieser konnte nun auch die ersten Einzelheiten ausmachen, doch er blieb er stehen, als er alles im Blick hatte. Schwer atmend hielt er bald an, zog den Schal von seinem Gesicht und die schwarze Kapuze vom Kopf, nahm einen tiefen Atemzug der eisigen Luft und betrachtete was vor ihm lag.
Gläserne Türme schraubten sich empor, dazwischen bläuliche Mauern und spitze Zinnen aus Eis. Dahinter lag nur die schneelose Schwärze des Berges, doch das gefrorene Schloss hob sich davon ab wie ein funkelnder Stern vom Nachthimmel.
Die starren Fransen des roten Schals trommelten durch den Wind gegen den dicken Mantel, und der Wanderer hatte immer noch den Blick auf eisigen Bauwerk, dessen kalten Tore leicht geöffnet vor ihm lagen.
Viele Geschichten rankten sich um die Festung, sie waren es, die den Wanderer hierher geführt hatten. Drachen, Geister, Hexen und Schätze solle es im Innern geben, und wer sich hinein traute hatte gute Chancen, ein besseres Leben danach zu führen. Der Wanderer liess sich Zeit und staunte noch über die gefrorenen Wälle und Türme, doch er betrat die Feste nicht. Gemächlich legte er den Schal wieder um, setzte die Kapuze wieder auf, nahm den Stab fest in die Hand und drehte sich um. Unter der Schal lächelte er.
Es gibt noch so viel zu sehen, dachte er sich, und setzte seinen Weg fort. 

 

 

von Sven Suess