Plätzchenmörder

 

«Die Nacht bricht herein. Und mitten in der Finsternis taucht die hochgewachsene Gestalt auf. Ein schlanker Mann, beinahe dürr. In einen bodenlangen schwarzen Mantel gehüllt. Sein Kennzeichen, ein roter Schal, den er mehrmals um seinen sehnigen Hals gewickelt hat. Gemächlich nähert er sich deinem Haus.

 

Sicheren Schrittes bewegt er sich fort. Je näher er kommt, umso gemächlicher geht er. Wie eine Katze, die sich an ihre Beute heranpirscht. Gebannt verfolgst du jede seiner geschmeidigen Bewegungen.

 

Als ihn nur noch wenige Meter von dir trennen, erkennst du seine Augen. Sie sind kohlschwarz und scheinen dich regelrecht zu durchdringen. Du schauderst. Nun steht er direkt vor deinem Fenster. Starrt dich unverwandt an.

Eiskalte, leblose Augen.

 

Entsetzten packt dich und du bemerkst, wie du vor Angst zitterst. In Zeitlupentempo hebt er die knochige Hand. Seine Finger lassen Spuren auf der frostbedeckten Scheibe zurück. Du bemühst dich, die Zeichen zu entziffern. Dann das Klopfen.

Er steht an der Tür.

 

Zitternd erhebst du dich, auch wenn du den Wunsch verspürst dich zu verstecken. Das Blut pocht in deinen Adern, dein Herz rast und schlägt schmerzhaft gegen deine Brust. Es klopft erneut. Energischer.

 

«Plätzchen. Frisch gebacken!» Seine Stimme ist rau, angsteinflössend und verführerisch zu gleich. Du öffnest die Tür. Er steht vor dir. Hält dir eine Schachtel Plätzchen hin. «Kosten nur 50Rp. pro Stück», säuselt er nahe deinem Ohr. Ohne dass du es bemerkt hast, hat er seinen Fuss in den Türrahmen geschoben.

Du kannst die Tür nicht schliessen. Es gibt kein Entkommen.»

 

-

 

Schaudernd schliesse ich das Buch. Es ist viel zu spät für eine solche Lektüre. Sicherheitshalber werfe ich einen Blick aus dem Wohnzimmerfenster. Dunkelheit. Ich atme auf, will mich aus dem Sessel erheben und zu Bett gehen. Da erst fallen mir die Zeichen an der Fensterscheibe auf. Sie scheinen mit klammen Fingern gemalt worden zu sein. Es klopft an der Türe. Ich zucke zusammen.

 

«Der Plätzchenmörder» schiesst es mir durch den Kopf. Das Buch in meiner Hand fällt zu Boden. «Plätzchen. Frisch gebacken!» Eine raue Stimme.

 

Die Geschichte ist doch bloss erfunden. Es gibt kein Grund sich zu fürchten. Versuche ich mir selbst Mut zu machen und öffne die Tür. Ob aus unbändiger Neugier oder Dummheit weiss ich nicht.

 

Vor mir steht ein schlanker Mann. Beinahe dürr. In einen bodenlangen schwarzen Mantel gehüllt, einen roten Schal um den sehnigen Hals gewickelt.

 

Und wenn es ihn doch gibt?

 

Panisch will ich ihm die Tür vor der Nase zuschlagen. Doch er reagiert schneller und schiebt seinen Fuss in den Türspalt. «Möchten Sie ein Plätzchen?», säuselt er nahe an meinem Ohr. Die leblosen, kohlschwarzen Augen scheinen mich zu durchdringen. Eine knochige Hand streckt sich mir entgegen.

 

 

 

 

 

von Nina Hausmann