Nur ein Schritt

Es hat funktioniert. Es hat tatsächlich funktioniert. Nach wochenlanger Übung. Die mühselige Arbeit hat endlich ihren Zweck erfüllt. Das Aufschreiben der Träume jeden Morgen, das Schärfen meiner Sinne, die Verdreifachung meiner Konzentration, all das hat endlich Früchte getragen. Diese Nacht konnte es mir gelingen. Wir sassen auf dem Sofa. Schauten eine Schnulze. Mama ass Gemüse. Mama hasste Gemüse. Das war der Moment, als es Klick gemacht hat, als mir bewusstwurde, ich träumte.

 

«Emma, Frühstüsch ischt bereit. Hab Schnipo gemascht exschtra für disch!» Das Altbekannte. Vermutlich liegt Mama wieder irgendwo auf dem Boden herum und streichelt ihre Finken, die sie für unsere verstorbene Katze hält. Immerhin hat sie gemerkt, dass es Morgen ist. An manchen Tagen kommt sie zu mir, wenn ich langsam aus dem Bett steige, und versucht, mir einen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn zudrücken. Meist trifft sie eher den Mülleimer neben der Tür. Als ich unten an der Treppe stehe, kann ich sie nirgends sehen. Soll mir recht sein. Ich nehme mir ein drei Tage altes Brötchen vom Tisch und mache mich auf den Weg zur Schule. Ich hasse es, wenn die Nacht vorbei ist und die Realität zurückkehrt.

 

Den ganzen Tag lang will ich nur eins: weg von hier. Nach Hause. In mein Bett. Und schlafen. Träumen. In meine Welt eintauchen. Meine Mutter vergessen. Meine Freunde vergessen. Die ganze Welt ausblenden. Die Welt meiner Träume gehört nur mir. Sie ist genauso, wie ich sie immer wollte. Ich bin ihr Schöpfer. «He, Knasti, wo ist denn deine Fussfessel geblieben?» Gelächter. Das bin ich mir unterdessen gewohnt. So gewohnt, dass es mich fast nicht mehr schmerzt. Aber eben nur fast. Ich blicke an meinem schwarz-weiss gestreiften Strickpulli hinunter. Am linken Ärmel hat er ein Loch, überall sonst Flecken. Er ist mein bestes Kleidungsstück. Und das einzige, von dem noch mehr als die Hälfte übrig ist. Alle anderen Pullis oder Shirts sind im Laufe der Zeit entweder zerrissen oder von meiner Mutter mit Esswaren verwechselt worden. So oder so sind sie jetzt nicht mehr ganz. Selten gelingt es mir, einen neuen Pulli aus dem Supermarkt zu schmuggeln. Aber auch der überdauert selten eine ganze Woche. Nur der schwarz-weiss gestreifte überlebt, ohne ihn hätten die anderen wohl zu wenig, um mich zu demütigen, meine Mutter hat ihn als ungeniessbaren Stoff anerkannt.

 

Zuhause ist es still. Verdächtig still. Die Schneeflocken tänzeln vor dem Fenster. Ich habe Wichtigeres im Kopf. Ich gehe hoch in mein Zimmer, ziehe mich aus, liege aufs Bett und mache die Augen zu. Ich will nur eins: einschlafen. So schnell wie es geht. Um so rasch wie möglich träumen zu können.

 

Ein Flugzeug zeichnet Herzen in den Himmel, die Affen zwitschern in den Bäumen. Ein Wal taucht aus dem Teich auf und pustet einen Regenbogen in die Luft. Die Sonne scheint auf die grünen Apfelbäume, unter denen Mama sitzt und in ein Notizbuch schreibt. Moment. Mama kann gar nicht schreiben. Langsam habe ich echt Übung gekriegt. Also die Affen singen ein wenig zu tief. Ich stelle mir die hohe und zarte Stimme einer Amsel vor. Zack, die Affen singen in der Stimmlage der Amseln. Das Leben könnte so perfekt sein. Alles harmonisch im Einklang. Aber ganz so makellos wie hier müsste es gar nicht sein. Was würde ich nicht schon alles dafür tun, um die Hälfte aus dieser Traumwelt in die echte zu exportieren?

 

Dring. Dring. Die Klingel. Die Klingel? Nie klingelte es bei uns. Niemand will sich den Anblick unserer Wohnung antun. Sicherlich ein Irrtum. Dring. Dring. Da scheint wohl jemand tatsächlich zu uns zu wollen. Und das auch noch dringlichst. Ich gehe nach unten und öffne die Tür. Eine blaue Uniform leuchtet mir entgegen. «Guten Abend, tut mir leid für die späte Störung, aber es ist eine sehr wichtige Angelegenheit. Dürfte ich vielleicht reinkommen? Wir besprechen das wohl besser im Sitzen.»

 

Diese Tiefe unter mir. So endlos und doch in wenigen Sekunden überwunden. Der Flug, der alle Sorgen abwirft. Und auf den Flug folgt der Schlaf. Und mit dem Schlaf kommt das Träumen. Die Lösung all meiner Probleme. Die Welt würde verpackt, verschlossen und verbannt für immer, ersetzt durch eine neue Realität. Die Realität meiner Träume. Nur ein Schritt, eine winzige Bewegung, und ich würde erlöst. Nur ein Schritt, eine winzige Bewegung. Und dann der Fall.