Rotes Blut

Sie hatte die kalte Schönheit einer Winterlandschaft schon immer geliebt. Unberührte weisse Flächen, dann wieder kahle Bäume mit Eiszapfen an den Ästen, die im blassen Licht der Wintersonne funkelten wie Juwelen, manchmal Fussspuren im Schnee, als Zeichen, dass vor ihr noch ein anderes Wesen dagewesen war, in seiner Erscheinung so flüchtig wie das Leben selbst.

Sie war am Waldrand stehen geblieben, wandte sich um und liess ihren Blick über das Tal schweifen. «Wollt ihr zurück, Mylady?» Jakobs Stimme klang ausdruckslos, aber keineswegs unfreundlich. Und das war es, die seine Anwesenheit für sie erträglich machte, wenn sie die Gesellschaft der anderen Menschen leid war, Menschen mit ihrem gekünstelten Gehabe, die sich mit den seltsamsten Farben und Kleidern schmückten, um für schön gehalten zu werden. Jakob hingegen trug seine Dienstbotenkleidung, schwarze Hosen und ein schwarzes Oberteil mit kurzen Ärmeln, unter dem sich sein muskulöser Oberkörper abzeichnete. Die einzige Verzierung war ihr Logo ihrer Familie auf seiner Brust, um zu zeigen, wohin er gehörte. Ihre Eltern hatten darauf bestanden, dass er sie auf ihrem Spaziergang begleitete. Der kalte Wind liess sie zittern und zum wiederholten Mal fragte sie sich, wie es sein konnte, dass er nicht fror, auch wenn sie den Grund dafür kannte. «Ist alles in Ordnung, Mylady?» Sie glaubte, Besorgnis in Jakobs Stimme zu hören, ehrlicher als alles, was sie je von ihren Eltern gehört hatte, und doch konnte das nicht sein, Jakob tat nur das, was ihm aufgetragen wurde. «Ja…ja, alles ist gut.» Vor ihnen auf dem Feldweg erkannte sie die Hufabdrücke eines Rehs, eine Spur, die tiefer in den Wald hinein führte. «Schau mal», sie zeigte auf die Spur und Jakob trat näher. «Weisst du, manchmal denke ich mir, das ist alles, was von der Menschheit bleiben wird. Fussspuren in einer kahlen, kalten Welt, vom nächsten Windhauch verweht. Wir sind so unbedeutend, so vergänglich. Alles, was wir tun, ist sinnlos, ein sinnloser Versuch, unsere Vergänglichkeit zu vergessen, und all unsere Empfindungen und Emotionen sind Nichtigkeiten im Angesicht der Ewigkeit.» «Aber ist es nicht dich Vergänglichkeit, die dem Leben den Wert gibt? Ist es nicht die Gewissheit des Todes, die den Mut hervorruft, Dinge zu tun, da es irgendwann ein Zu Spät geben kann?» Sie war erstaunt, Jakob so reden zu hören, denn sie kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass sich sein Tonfall verändert hatte, und sie konnte sich nicht erinnern, dass er jemals so … betroffen geklungen hatte. Jakobs Blick schweifte in die Ferne und als er weitersprach, klang er fast traurig. «Du betrachtest das Leben als etwas Sinnloses, und vielleicht hast du damit auch recht, aber das Leben erscheint mir auch so wundervoll, jeder Tag ist kostbar und einzigartig, und Empfindungen und Emotionen sind es doch, die dem Leben die Farben verleihen, die dir zeigen, dass du noch da bist.» Sie schwieg und sah ihn an. Dann fragte sie leise: «Ist bei dir alles in Ordnung?» Jakob stand wie erstarrt da. Einen Augenblick später, von einem Moment zum nächsten, stand er wieder in seiner üblichen Haltung da und sagte mit einer noch neutraleren Stimme als sonst: «Ein Schneesturm zieht auf. Wir sollten zurück.» Sie nickte nur.

 

Mit rasendem Herzschlag schreckte sie aus dem Schlaf auf. Sie sah noch das Bild vor sich, Jakob, wie er in der kalten Landschaft stand, in der einen Hand ein Messer, einen langen Schnitt an seinem Unterarm. Rotes Blut tropfte auf den Schnee. Was für ein absurder Traum, dachte sie und schüttelte den Kopf. Sie stand auf, zog sich einen Morgenmantel über und begab sich in die Küche. Der Raum war verlassen, doch gerade, als sie sich ein Glas aus einem der Schränke nehmen wollte, hörte sie ein Scheppern aus der Abstellkammer nebenan. Vorsichtig öffnete sie die Tür. Der Raum war schwach erleuchtet und in der Mitte des Raumes stand Jakob und umklammerte sein rechtes Handgelenk. Vor ihm auf dem Boden lag ein Messer. Sie trat ein und schloss die Tür. «Jakob, was ist?» «Es tut nicht weh», flüsterte er rau, und sie fragte sich, wie er nur so verzweifelt klingen konnte. «Ich kann den Schmerz nicht spüren. Sophia, ich wünsche es mir so sehr, so sehr.» «Was wünschst du dir so sehr?» Jakob hob den Kopf und der Ausdruck auf seinem Gesicht erschütterte sie bis ins Mark. «Leben. Den Schmerz spüren. Menschlich sein.» Dann gab er sein Handgelenk frei und sie sah die aufgeschnittene Haut, sowie die Kabel, Drähte und Metallstreben, die darunter verliefen. 

 

 

Von Priska Steinebrunner