Schneeengel bauen

Das Lachen der Kinder verklang, als sie ihren Müttern nach Hause folgten. Den ganzen Nachmittag hatten sie auf der Wiese herumgetobt und Figuren aus dem Schnee gebaut. Jetzt dämmerte es langsam und er sah ihnen nach, wie sie begeistert herumsprangen und ihren Müttern erzählten, was sie denn heute alles gemacht hätten. Zuhause bekämen sie eine heisse Schokolade und einen Teller Weihnachtskekse vorgesetzt, die Mutter läse ihnen etwas vor und später, wenn es denn schon lange dunkel geworden wäre, würden sie zu Bett gehen, immer noch mit diesem Leuchten in den Augen, welches von einem aufregenden Tag zeugte. Er erinnerte sich gut, wie es damals gewesen war, doch das war schon lange her. Sein Blick schweifte über all die Schneemänner, Schneefrauen, Schneeengel und was die Kinder sonst noch in ihrer grenzenlosen Fantasie gebaut hatten. Er seufzte. Wie lange war es her, dass er das letzte Mal einen Schneeengel gebaut hatte? Wann hatte er überhaupt das letzte Mal diese bedingungslose Freude verspürt, die diese Kinder hier den ganzen Tag nur so versprüht hatten? Wann war sein Leben nur so trist geworden? Er wusste es nicht, es war schon zu lange her. Irgendwann hatte er aufgehört, im Schnee zu spielen. Irgendwann hatte er sich lieber mit seinen Freunden in der Stadt getroffen. Irgendwann hatte er keine Zeit mehr gehabt, mit all der Arbeit, um Nachmittags nach draussen zu gehen. Und jetzt sass er da, auf der Bank neben der Wiese und hatte nur zugesehen, wie die Kinder lachten und sich im Schnee austobten, und er hatte sich gefragt, wie jemand bloss noch so viel Energie haben konnte. Es hatte ihn irgendwie traurig gemacht

 

Er stand auf, streckte sich, und das Leben kehrte in seine Gliedmasse zurück. Er wandte sich dem Feldweg zu, der zurück in den Ort führte, doch dann hielt er inne. Am Rand der Wiese war eine kleine Fläche, welche die Kinder noch unberührt gelassen hatten und einige Herzschläge später suchte er sich seinen Weg durch all die Schneefiguren. Dann ging er auf die Knie, zog seine Stoffhandschuhe aus und formte aus dem Schnee eine Kugel. Sie war nicht gleichmässig rund, doch als er versuchte, sie zur richtigen Form zurecht zu klopfen, zerfiel sie. Er atmete tief durch und die kalte Luft füllte seine Lunge. Dann formte er eine neue Kugel und schliesslich noch eine kleinere, die er als Kopf auf die andere setzte, doch als er die zwei Schneeklumpen, die er zu Flügeln geformt hatte, befestigen wollte, zerfiel der gesamte Engel. Frustriet schlug er auf den Schnee ein. Wieso wollte ihm nicht einmal das Bauen eines einfachen Schneeengels gelingen? Als Kind hatte er tausende gebaut, doch jetzt zerfiel ihm alles in den Händen. Wie unfähig er doch war! Er schluchzte auf. Eine heisse Träne rann ihm über die eiskalte Wange. Er wünschte sich zurück in seine Kindheit, dass seine Mutter zu ihm komme, ihn in den Arm nehme und ihm ins Ohr flüstere, er solle nicht aufgeben, beim nächsten Mal klappe es bestimmt. Er wollte auch abgeholt werden, zuhause eine heisse Schokolade trinken und abends vor dem Zubettgehen noch eine Gute-Nacht-Geschichte hören. Doch er wusste, er würde den Weg alleine zurückgehen müssen, in seiner Wohnung würde keiner auf ihn warten, es gäbe keine Schokolade und keine Weihnachtskekse. Warum hatte er bloss aufgehört ein Kind zu sein? Er legte sich in den Schnee und blickte zum Himmel. Es hatte wieder angefangen zu schneien und er musste blinzeln, als die Flocken auf seinem Gesicht landeten. Wie lange würde es wohl dauern, bis er vollständig vom Schnee bedeckt wäre? Der Schnee war fast wie eine Umarmung und spendete ihm auf seine eigene, kalte Weise Trost. Er erinnerte sich, dass es noch eine andere Art gab, Schneeengel zu erschaffen, und so begann er, mit den Armen und Beinen zu rudern, den Schnee auf die Seite zu schieben. Dann stand er auf und betrachtete sein Werk. Da war sein Abdruck, ein wunderschöner Engel im Schnee, genau wie damals, nur dass der Engel jetzt grösser war, erwachsener, genau wie er. Ein kleines Stück erwachsene Kindheit. Es war jetzt schon beinahe dunkel und die Flocken fielen dichter, also machte er sich auf den Heimweg. Er könnte sich unterwegs noch Milch und Schokopulver kaufen und dazu noch gleich die Zutaten für die Weihnachtskekse. Dann könnte er heute Abend backen und die Kekse morgen mit seinen Arbeitskollegen teilen. Und falls noch welche übrig blieben, könnte er sie am Sonntag einfach mitnehmen, wenn er seine Mutter besuchen ging. Ein leises Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und fast wäre er etwas herumgesprungen, so wie die Kinder es getan hatten. Ein kleines Stück Kindheit konnte man sich auch selber schaffen. 

 

Von Priska Steinebrunner