Es regnete in Strömen und seine Jacke war schon völlig durchweicht. Er hatte die Kapuze hochgeschlagen, trotzdem schlugen ihm immer wieder Tropfen ins Gesicht und liefen seine Wangen hinunter. Die Hände tief in den Taschen vergraben stand er im einsamen Licht einer Strassenlaterne. Er fror.
Unter ihr erstreckte sich das Lichtermeer der Stadt. Tausende Lichter, von Strassenlaternen, Autos, den Fenstern, all diese Lichter zeigten, dass da Menschen waren, Menschen, die Sorgen hatten, Probleme. Ihre Hände umklammerten das Stahlgeländer, welches das Hochhausdach von dem Lichtermeer trennte.
Die Glocke an der Tür klingelte, als ein junger Mann in schmuddeligen, zerrissenen Kleidern, einem schweren Rucksack und einem Geigenkoffer das Café betrat, in dem sich sonst nur noch ein knutschendes Pärchen befand. «Was willst du, Junge?», brummte er und dieser räusperte sich. «Eine heisse Schokolade bitte.» Er nickte und deutete auf einen der Tische.
Der Tumult des Berufsverkehrs hatte sich gelegt, dennoch herrschte im Bahnhof reger Betrieb. Die letzten müden Berufsleute stiegen in ihre Züge ein, während johlende Gruppen junger Leute durch die Halle in Richtung Stadt liefen.
Immer wieder sah er sich um, in der Hoffnung, dass sie bald auftauchen würde. Schliesslich sah er, wie sie die Strasse herauf kam, ein Regenschirm in der Hand. Ein Meter vor ihm blieb sie stehen.
Sie atmete tief durch, dann schwang sie ihr Bein über das Geländer, dann das zweite. Weit unter ihr erklang das Hupen der Autos, doch die Geräusche drangen wie aus einer anderen Welt zu ihr. Alles, was sie hörte, war das Pfeifen des Windes, der an ihrer Kleidung zerrte und sie mit in die Tiefe reissen wollte.
Die heisse Schokolade dampfte, als er sie vor dem jungen Mann auf den Tisch stellte. «Willst du sonst noch etwas?», fragte er ihn, doch dieser schüttelte den Kopf. «Dann macht das Vier Fünfzig.» Der junge Mann holte aus seiner Tasche eine Hand voll Münzen hervor und begann, das Geld abzuzählen.
Ein junges Paar stand auf dem Bahnsteig, er hielt eine Reisetasche in der Hand. Die beiden umarmten sich, als ob sie sich nie wieder sehen würden.
«Was willst du?» Er konnte nicht sagen, ob sie wütend oder einfach angespannt klang. Er trat von einem Fuss auf den anderen und versuchte, nicht mit den Zähnen zu klappern.
Die Scharniere der Tür, die vom Treppenhaus aufs Dach führten, quietschten, und als sie den Kopf umwandte, sah sie, wie die Tür sich öffnete, und er aufs Dach trat.
Das Pärchen legte einige Scheine auf den Tisch und verschwand kichernd aus dem schummrigen Café. Er nahm das Geld, zählte es ab und legte es in die Kasse. Dann kehrte er zum Tisch seines nun einzigen Gasts zurück. Er warf einen Blick auf die Münzen, die der junge Mann ihm hingelegt hatten. Es fehlten ein Teil, aber da das Pärchen ihm ein grosszügiges Trinkgeld hinterlassen hatte, nickte er bloss und klaubte die Münzen zusammen.
«Du weisst, mir gefällt es nicht, dass du über Weihnachten wegfährst.» Sie sah ihn leicht vorwurfsvoll an. Er strich ihr sanft durchs Haar. «Ich weiss, Schatz, aber du verstehst, dass das die Chance für mich ist, beruflich aufzusteigen. Und wir werden das Geld bald brauchen.» Er lächelte und strich ihr über den Bauch, der schon leicht gewölbt war.
«Ich weiss, heute ist nicht alles so gelaufen, wie es sollte. Ich habe mich dir gegenüber echt blöd verhalten.» Sie nickte. «Allerdings.» Er schluckte. «Das tut mir leid. Aber du musst wissen, dass ich…», er stockte, dann atmete er tief durch. «Ich hatte Angst.»
«Was tust du da?» Er stürzte auf sie sie zu. «Bleib stehen!», schrie sie und lehnte sich nach vorne. «Hindere mich nicht daran. Das ist das Beste, das du für mich tun kannst.» Tatsächlich wurden seine Schritte langsamer, dennoch blieb er nicht stehen. «Bitte…bitte, spring nicht.»
«Bist du Strassenmusiker?», brummte er. Der junge Mann nickte. Er kehrte hinter seinen Tresen zurück und beobachtete, wie dieser seine heisse Schokolade trank. Zwischendurch wanderte sein Blick zur Uhr, die Zeiger schienen sich unglaublich langsam fortzubewegen.
Sie nickte und lehnte sich an ihn. «Ich werde dich trotzdem vermissen.» Er küsste sie auf den Scheitel und zog sie noch näher heran. «Ich dich auch. Und ich verspreche dir, jeden Abend mich bei dir zu melden.» «Wehe, wenn nicht.»
«Und wovor?» Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. Er blickte zu Boden. «Keine Ahnung, ich…ich wollte, dass ich cool rüberkomme, dass du mich magst, den ich», er hob den Kopf, sah sie an, «ich mag dich. Sehr sogar.»
«Ich will das nicht mehr.» Sie liess ihren Blick wieder über das Lichtermeer schweifen. «Was willst du nicht mehr?» «Das alles hier ertragen. Mein Leben. Ich will nicht mehr jeden Tag Angst haben, dass ich etwas falsch mache , aber ich kann es nicht besser. Und dann kommen sie wieder und sagen diese Dinge und ich weiss, dass alles mein Fehler ist.»
«Was machst du so spät noch in der Stadt, Junge?» Der junge Mann zuckte etwas zusammen, als er ihn so plötzlich ansprach. «Ich…normalerweise bin ich abends im Bahnhof, weil es da wärmer ist, aber heute hätte mich so ein Typ fast angekotzt und da dachte ich mir, ich verschwinde wohl besser.» «Hast du denn kein Zuhause?» Der junge Mann schüttelte den Kopf. «Und wenn sie mir jetzt sagen wollen, dass ich nur meine Geige verkaufen müsste, um besser über die Runden zu kommen, das mach ich nicht.» Er zuckte mit den Schultern. Es war nicht seine Intention gewesen, das zu sagen, aber der junge Mann schien das scheinbar häufiger zu hören.
Sie zog ihn zu einem richtigen Kuss hinunter und schlang die Arme um ihn, um ihn festzuhalten. Am liebsten hätte sie ihn nie wieder losgelassen.
Sie schwieg und nach einigen Sekunden, in denen nur das Prasseln des Regens zu hören war, senkte er seinen Blick. «Ich geh wohl besser.» Er wandte sich um.
«Komm da weg und wir finden eine Lösung. Es liegt nicht an dir.» Sie sah wieder nach hinten, sah, wie er sich ihr immer noch mit vorsichtigen Schritten näherte. «Ich kann nicht mehr. Es ist besser für alle wenn ich gehe.» Sie spürte, wie ihr eine Träne über die Wange lief. Er war nur noch etwa ein Meter von ihr entfernt.
«Wir schliessen gleich.» Der junge Mann seufzte und warf einen traurigen Blick nach draussen. Dann stand er auf und brachte seine Tasse zum Tresen. Dann kehrte er zu seinem Tisch zurück, schulterte seinen Rucksack und hob den Geigenkoffer auf. Vor der Tür zögerte er.
Als die Lautsprecherdurchsage erklang, die den Zug ankündigte, lösten sie sich wieder voneinander. «Ich liebe dich. Und ich werde immer zu dir, zu euch zurück kommen.» «Ich liebe dich auch. Und ich brauch dich hier, also beeil dich.» Sie schluckte. «Was soll ich den ohne dich den ganzen Tag machen?»
«Warte!», hörte er sie rufen. Er drehte sich zu ihr um.
«Es ist nicht besser, wenn du gehst. Die Welt braucht dich noch, ich brauche dich noch.»
«Weisst du einen warmen Ort, wo ich hin kann?»
«Mir geht es wie dir, aber was soll ich machen?» Er schüttelte traurig den Kopf.
Sie sah ihn an. Ihre Stimme klang sanft.
Er streckte die Hand nach ihr aus. Sie konnte die Angst in seiner Stimme hören.
Der junge Mann sah so einsam aus, dass ihm das Herz schwer wurde. Er seufzte.
Sie sah ihn flehend an.
«Bleib»
Von Priska Steinebrunner